Am Beispiel von Microsoft Power Apps diskutieren Jörg v. Steinaecker von Steinaecker Consulting und Robin Saberi von ModulAcht in ihren nachfolgenden Beiträgen Einsatzgebiete sowie Vor- und Nachteile für das Autohaus.

Einführung

Von Jörg v. Steinaecker

Die Entwicklung von individueller Software im oder für ein Autohaus steckt mehrheitlich noch am Anfang seiner Entwicklung.  Gemeint ist damit, z.B. die Beauftragung eines Programmierers oder eines Dienstleisters mit der Erstellung einer Software, für die die Anforderungen so individuell sind, dass sie nicht durch vorhandene Standardsysteme abgedeckt werden können.  Nicht gemeint ist damit also  – nur um das klar abzugrenzen – das „Nachprogrammieren“ von Standardsystemen wie einem Dealermanagementsystem, einem CRM-System oder einem Verkäuferarbeitsplatz.

Anwendungsgebiete für Eigenentwicklungen ergeben sich immer dann, wenn die Anforderungen sehr betriebsindividuell sind, „zwischen vorhandenen Anwendungen“ liegen oder die Anforderung die Anschaffung einer komplexen und kostenintensiven Lösung nicht rechtfertigen, man z.B. nur einmal etwas ausprobieren möchte.  Ein Beispiel für hochindividuelle Anwendungen ist z.B. das Kundenportal eines Händlers.  Weitere Beispiele für denkbare Einsatzmöglichkeiten von Eigenentwicklungen liegen im Berichtswesen oder der Unterstützung von ausgewählten Prozessschritte wie ein Probefahrtenkalender, die An-/Abwesenheitsplanung von Mitarbeitern etc.

Für die Eigenentwicklung von Software ergeben sich theoretisch zwei unterschiedliche Herangehensweisen:

  1. Vollständige Eigenentwicklung,
    h. die Benutzeroberfläche, die Prüf- und Berechnungslogiken, die Datenbanken, Schnittstellen, Übertragungsprotokolle etc. werden alle mehr oder weniger von Grund auf selber erstellt. Hierfür sind immer ein vollständig ausgebildeter Programmierer bzw. ein entsprechender Dienstleister notwendig.
  2. Einsatz von Baukastensystemen,
    in denen man aus einem Werkzeugkasten von Softwarebausteinen eine Anwendung quasi zusammensetzt. Der Extremfall davon sind sog. No-Code-Plattformen, d.h. der Ersteller kann sich die Anwendung gewissermaßen „zusammenklicken“, ohne „echten“ Programmiercode erstellen zu müssen.  Dies – so versprechen es die Anbieter – können im Extremfall sogar Endanwender selber tun, d.h. man soll Anwendungen ohne Programmierer erstellen können.

In der Praxis sind natürlich alle Arten von Mischformen vorzufinden.  So werden Programmierer bei der vollständigen Eigenentwicklung auch auf Frameworks etc. zurückgreifen und die Erstellung von hochindividuellem Code ist auch in Baukastensystemen möglich (und je nach Anforderung auch manchmal unumgänglich).  Anbieter von Baukastensystemen gibt es mittlerweile sehr viele und sie unterscheiden sich je nach Anwendungsgebiet und technischer Umgebung.  Eine Auflistung einiger Vertreter findet man auf Capterra (https://www.capterra.com.de/directory/32095/no-code-platform/software).  Der Baukasten Microsoft Power Apps nimmt darunter durch seine Mächtigkeit, seine Nähe zur oft im Betrieb bereits eingesetzten Office- oder Exchange-Umgebung und vieler anderer Vorteile eine besondere Rolle ein, weshalb er hier detailliert vorgestellt werden soll.

Nachfolgend wird Robin Saberi als langjähriger Dienstleister für solche Lösungen auf die Eigenschaften und natürlich Vorteile von Microsoft Power Apps eingehen.  Ich dagegen, werde am Ende etwas zu den Risiken und Nebenwirkungen schreiben.

Was sind Baukastensysteme und was ist Microsoft Power Apps?

von Robin Saberi

Spricht man in der Software-Entwicklung von einem Baukastensystem, so ist ein System gemeint, welches es dem Anwender ermöglicht, ohne Code zu programmieren, eine Software-Lösung in Form einer Applikation zu erstellen. Microsoft bietet mit der Power Platform genauso einen Baukasten an und vermarktet sie als „No-Code / Low-Code Platform“ für „Citizen Developer“. Also als Plattform mit der ein Endbenutzer ohne Programmiererfahrung Software-Anwendungen erstellen kann. Die Grundidee dahinter ist es Unternehmen so einfach wie möglich zu machen, Geschäftsprozesse und Arbeitsabläufe mittels angepasster Software zu vereinfachen.

Die Power Platform setzt sich aus den folgenden 4 Komponenten zusammen:

  • Zur Erstellung von Applikationen: Power Apps:
  • Zur Automatisierung von Arbeitsschritten: Power AutomateUm Daten grafisch darzustellen: Power BI
  • Um Chatbots zu erstellen:  Power Virtual Agents

Power Apps

Es gibt 2 verschiedene Typen von Power Apps. Die Canvas Apps erlauben es dem Entwickler eine sehr individuelle Benutzeroberfläche zu erstellen und finden Ihren Einsatz vorzugsweise auf mobilen Endgeräten wie Handy oder Tablet. Die Modeldriven-Apps legen ihren Schwerpunkt auf das Abbilden von Geschäftsvorfällen. Sie haben ihre eigene Datenbank, den Microsoft Dataverse, können Geschäftslogik abbilden und dem Endbenutzer eine intuitive Benutzeroberfläche, welche für den Desktop, als auch für mobile Endgeräte gleichermaßen gut funktionieren.

Ich behaupte, dass jeder, der technisch affin ist, eine Power App – egal ob Canvas oder Modeldriven – erstellen kann. No-Code/Low-Code funktioniert also wirklich. Ob eine solche Anwendung dann langfristig wartbar und erweiterbar ist, hängt hingegen stark von der Erfahrung des Entwicklers ab.

Macht denn ein solches System dann überhaupt Sinn?

Ja, absolut! Und zwar für genau die, die mit der Entwicklung von Software schon ein gewisses Maß an Erfahrung haben. Der Grund ist, dass man von Anfang an stark Lösungsorientiert entwickelt. Funktionen wie Authentifizierung, Authorisierung, Rollensystem, Datenbank, Benutzerverwaltung, etc. bringt das System schon mit. Als Entwickler ist mal also viel mehr und von Beginn darauf fokussiert das Problem des Kunden und nicht seine Eigenen zu lösen. Die Zeit für die Implementierung der Anwendung verkürzt sich deutlich und man hat als versierter Programmierer gleichzeitig die Möglichkeit nicht vorhandene Funktionalitäten durch selbst geschriebenen Code zu ergänzen.

Wo liegen die Vorteile für den Automobilhandel?

Was die Digitalisierung angeht, gibt es im Automobilhandel mittlerweile eine Fülle an großartigen Software-Lösungen, die meist einen ganz bestimmten Bedarf oder einen ganz bestimmten Prozess abdecken. In den meisten Fällen kann die Software wenig an die Bedürfnisse des Unternehmens angepasst werden. Somit werden die Unternehmensprozesse an die Software angepasst. Das lässt wenig Raum für Innovation im täglichen Arbeiten. Gerade im Umgang mit Kunden wird es schwierig eine eigene Identität (Marke) aufzubauen, was ich persönlich sehr schade finde.

Fazit

Für Programmierer mit einem gewissen Maß an Erfahrung bieten die Power Apps ein Entwickler-Eldorado. Die Entwicklung von Anfang bis Ende ist deutlich schneller und man ist von Beginn an auf die Lösung fokussiert, weil einem lästige Arbeit vom System abgenommen wird. Für den Autohandel stellt die Power Plattform eine Möglichkeit dar, Prozesse - individuell und an die eigenen Bedürfnisse angepasst - zu digitalisieren.

 

Risiken und Nebenwirkungen von Baukastensystemen für den Automobilhandel

von Jörg v. Steinaecker

Um es vorweg zu nehmen:  Baukastensysteme und No-Code-Plattformen haben absolut ihre Daseinsberechtigung.  Sie bieten eine Vielzahl von Vorteilen und unterstützen insbesondere, dass man im Autohaus sehr schnell „mit Digitalisierung anfangen kann“, im Gegensatz zum oft endlosen „nur darüber reden“.  Auch kann man als Betrieb damit in kürzester Zeit Softwareprototypen erstellen, die oft bereits voll funktionsfähig sind.  Anhand derer kann eine kunden- oder anwenderorientierte Softwareentwicklung stattfinden, bei der man ganz im Sinne des Design Thinkings schnell Kundenfeedback einholt, die Lösung stetig verbessert und damit das Risiko des Scheiterns eines solchen IT-Projektes reduziert.  Umsonst gibt es aber wie immer im Leben auch diese Vorteile nicht.

Auch wenn Baukastensystem demjenigen, der die Anwendung erstellt, viel Arbeit abnehmen, so kommt ein vollständig unbedarfter Mitarbeiter eines Autohauses bei einer solchen Softwareentwicklung sehr schnell an seine Grenzen.  Er bzw. sie sollte sich zumindest auf Themen wie Datenformate und -relationen, Regeln und Mechanismen der Prüfung von Eingabedaten, Aufbau und Ausgabe von Fehlermeldungen, Screendesign, Funktionen etc. einlassen wollen.  Eine gewisse Vorbildung ist dazu mehr als hilfreich.  Jeder – im wörtlichen Sinne – wird nicht in der Lage sein, Anwendungen mit Baukastensystemen zu entwickeln.

Ein Aspekt, der in Praxisprojekten immer wieder auf den Tisch kommt, ist der fehlende Support auf der Prozessseite.  Auch wenn Programmierhäuser, die No-Code-Lösungen anbieten, die technische Seite natürlich sehr gut beherrschen, so sind diese in der Regel keine Branchen- oder gar Prozessspezialisten im Autohaus.  Wo ein Anbieter beispielsweise eines „fertigen“ DMS oder Fahrzeughereinnahmesystems tief in den Autohausprozessen zu Hause ist und damit über seine Softwarelösung auch als Impulsgeber für Best-Practise-Lösungen dient, muss das Wissen über einen „optimalen“ Prozess bei Einsatz No-Code-Baukästen im Betrieb vorhanden sein oder über einen Berater zugekauft werden.

Auch besteht ein Risiko, dass nach einiger Zeit der ständigen Anwendungsentwicklung in den Fachabteilungen eines Autohauses mit No-Code-Plattformen ein Anwendungs-Zoo entstanden ist, über den keiner mehr den Überblick hat.  Unkontrolliert könnte ja jeder mal eben schnell eine Anwendung in die Welt entlassen, die sich dann als liebgewonnenes Dauerprovisorium im Betrieb etabliert.  Langfristig ist es daher unumgänglich, auch den Einsatz von No-Code-Plattformen im Betrieb zu koordinieren und zu steuern, um eine Schatten-IT gar nicht erst entstehen zu lassen.

Letztlich erhöht der durchgängige Einsatz einer Plattform immer auch die Abhängigkeit vom zugehörigen Betreiber, egal für wen man sich entscheidet.  Aber insbesondere bei einem Anbieter wie Microsoft, wird es dann immer schwieriger, sich von diesem zu verabschieden, wenn durch ihn neben der Officesoftware auch Unternehmensdatenbanken, Prozessunterstützung/Workflow, Webservices usw. abgebildet werden.

Es sei aber auch dazu gesagt, dass es eine Welt ohne Risiken und Nebenwirkungen nicht gibt.  Daher muss man wie immer in der Digitalisierung entscheiden, ob die gestellten Anforderungen erfüllt und die Summe aller Vor- und Nachteile der gewählten Lösung unter dem Strich eine Schwarze Zahl ergibt. Baukastensysteme im Allgemeinen und Microsofts Power Apps im Besonderen gehören bei der Suche nach der passenden Lösung in jedem Fall auf den eigenen Radarschirm.  Das gilt insbesondere für Autohäuser, die die Digitalisierung tiefer für sich nutzen wollen.  Ein fähiger Dienstleister, der als Steigbügelhalter für den Start und als Ansprechpartner für die mit Sicherheit schnell auftauchenden Spezialfragen bereitsteht, sollte man in jedem Fall bei der Hand haben.

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Dr. Jörg v. Steinaecker ist Gründer und Inhaber von Steinaecker Consulting, einer Beratungsunternehmen mit dem Fokus auf Digitalisierung und Transformation.  Seit über 10 Jahre unterstützt Automobilhändler und -servicebetriebe bei der Nutzung von digitalen Lösungen von der Softwareauswahl bis zur Erarbeitung einer eigenen Digitalstrategie und innovativer Geschäftsmodelle.  Hr. v. Steinaecker ist Autor diverser Bücher, gefragter Referent und Gründer von mehreren Start-Up—Aktivitäten.

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Robin Saberi ist Gründer und Inhaber der ModulAcht GmbH & Co. KG, einem Softwareentwicklungsunternehmen, welches sich auf die Vereinfachung von Arbeitsabläufen durch angepasste Software-Lösungen spezialisiert hat. Seit 10 Jahren analysiert, berät und implementiert die ModulAcht zu Themen der Digitalisierung speziell Kunden aus der Automobilbranche. Dies ist vor allem der Leidenschaft des Gründers zu sportlichen Autos geschuldet.